Cover
Titel
The Legend of Charlemagne. Envisioning Empire in the Middle Ages


Herausgeber
Stuckey, Jace
Reihe
Explorations in Medieval Culture
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 277 S.
Preis
€ 134,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albrecht Classen, German Studies, University of Arizona

Schon sehr lange hat Karl der Große eine überragende Rolle in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geistesgeschichte gespielt, und seit dem 19. Jahrhundert steigerte sich diese Anerkennung vor allem in politischer Hinsicht, weil er einen gewissen mythischen Charakter annahm und politisch oftmals gut, aber zweckentfremdet funktionalisiert werden konnte. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren verstärkt diesem Thema zugewandt, wie verschiedene Kongresse und eine Fülle an einschlägigen Publikationen eindrucksvoll belegt haben. An der Bristol University, UK, hat sich ein ganzer Forschungscluster dieser berühmten Figur gewidmet und in einer Buchreihe das Auftreten Karls des Großen in den verschiedenen Nationalliteraturen des Mittelalters verfolgt (“Charlemagne: A European Icon”).1

Weitgehend selbständig gestaltet, hat sich nun eine Gruppe von Historiker:innen und Literaturwissenschaftler:innen unter der Leitung des Herausgebers Jace Stuckey zusammengetan, um noch einmal aus verschiedenen Blickwinkeln die Rolle dieses frühmittelalterlichen Kaisers zu untersuchen. Sehr viel Innovatives kommt dabei nicht heraus, ja, die Beiträger selbst wiederholen sich oftmals, aber sie betrachten durchaus zufriedenstellend erneut die Rezeption Karls des Großen in verschiedenen wichtigen historiographischen und literarischen Werken des Mittelalters. Die Resultate des Bristol Clusters fließen hier leider kaum ein, vielleicht weil es sich um ein Konkurrenzunternehmen handelt, das das Thema wesentlich umfassender behandelt, als es der vorliegende Band schaffen kann.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert, wobei der erste und der letzte wie eine gute Klammer wirken, weil hier zunächst die mythische Figur Karls des Großen als eine Legende (Cullen J. Chandler) bzw. als Vorbild für Kreuzzugsideologie (Jace Stuckey) beschrieben wird, während am Ende William J. Diebold eine Art ausführliche Rezension der Ausstellung „Ex oriente: Isaak und der weiße Elefant“ (Aachen 2003) bietet und detailliert die öffentlichen Reaktionen darauf darlegt, die z.T. extrem politisch gestaltet waren und wenig mit Wissenschaft zu tun hatten. Warum spätere Ausstellungen nicht erwähnt werden, erscheint schon etwas seltsam (siehe zuletzt etwa „Mit Schwert und Kreuz – Karl der Große – Sachsen und die Eresburg“, 19. August bis 18. Dezember 2022 im Museum der Stadt Marsberg, oder die Ausstellungen zum 1200. Todestag Karls)2.

Im zweiten Teil geht es um Karl den Großen als Exempelfigur, was aber selbstverständlich sein dürfte und nicht noch einmal der breiten Behandlung bedürfte. Dazu aber soll er hier auch als ein Vertreter von “Other” im hohen und späten Mittelalter dienen, was etwas mysteriös erscheint und auch in den Aufsätzen nicht recht zur Sprache kommt. Zunächst behandelt Carla Del Zotto das Auftreten des berühmten Kaisers in Pilgerberichten bezogen auf den Camino de Santiago (vor allem: Codex Calixtinus) bzw. den relevanten chansons de geste und in der altisländischen Karlamagnus Saga, die weitgehend Übersetzungen französischer Texte umfasst, mithin auch Karl den Großen einschließt. Christopher P. Flynn untersucht die von Vincent de Beauvais vertretene Auffassung von der bedeutenden Rolle Karls des Großen in seinem Speculum Historiale. Und Jade Bailey geht schließlich auf das Auftreten des Kaisers in der englischen Dichtung des fünfzehnten Jahrhunderts ein (Livre de Charlemaine, Royal MS E VI), wo er sowohl als der Herrscher über Frankreich als auch Englands dargestellt wird und zugleich auch als Kreuzfahrer erscheint. Die illuminierten Manuskriptseiten, von denen sechs hier farblich abgebildet werden, zeigen Szenen aus dem Leben des Kaisers entweder als Vollbild oder als Miniatur. Die Handschrift erweist sich als außerordentlich attraktiv in ihrer Gestaltung und Kalligrafie.

Ana Grünbergs Aufsatz über die Rolle Karls des Großen in der spanischen Literatur des Mittelalters leitet den dritten Teil ein, aber sie bietet zunächst erneut einen blitzartigen Überblick der mittelalterlichen literarischen Rezeption dieser mythischen Figur, um sich dann speziell mehreren spanischen Texten zu widmen, die auf den Mainet-Stoff zurückgreifen (z.B. La primera crónica general de España oder La crónica carolingia), wo besonders die Jugend des späteren Kaisers behandelt wird. Hier taucht auch das berühmte Thema der sarazenischen Prinzessin auf, die mit Karl flieht und später zum Christentum konvertiert. Elizabeth Ponder Melick verfolgt genau dies dann speziell anhand dreier mittelenglischer Versromane (Roland and Vernagu, Otuel a Knight und The Siege of Milan), aber dem/der Leser:in wird es schwerfallen, die Fülle an Querverbindungen, textuellen Abhängigkeiten und Anlehnungen auseinanderzufädeln, weil die Autorin wenig darauf achtet, ihre Studie besser zu strukturieren. Larissa Tracy greift auf diese und andere englische Versromane zurück, um besonders die Rolle von „Verrat“ ins Auge zu fassen, was ja eines der zentralen Themen von allen Versionen des Karlsstoffes ausmacht. Auch hier erweist es sich als problematisch, dass der Herausgeber nicht mehr eingegriffen hat, um die Autorin ein wenig zu zügeln, denn am Ende schwirrt uns bloß der Kopf von den vielen Hinweisen auf die unterschiedlichen narrativen Elemente in den diversen Texten.

Man merkt oftmals, dass die Autor:innen gewissermaßen eine Monographie anpeilten, dann sich aber mit der Länge eines Aufsatzes begnügen mussten. Immer wieder kommt es zu ermüdenden Wiederholungen, Zusammenfassungen und langatmige Paraphrasierungen. Kein Beiträger ist offensichtlich mit den Arbeiten der anderen vertraut gewesen. Die Einleitung selbst geht zwar kurz auf einige der jüngeren Forschungen ein, aber eine gründliche Besprechung ist dies nicht. Mit Erstaunen stellt man fest, dass gerade die kritischen Perspektiven auf den ungerechten, unbeherrschten und gewalltätigen Kaiser in der spätmittelalterlichen Literatur viel zu kurz kommen. Die Aufsätze von Chandler und Stuckey überlappen sich erheblich, und ähnliche Probleme bemerkt man in den anderen ebenfalls (besonders von Ponder Melick und Tracy). Wenn auch Beispiele aus der französischen, isländischen, englischen und iberischen Literatur zur Sprache kommen, wundert man sich sehr darüber, dass der deutsch- und italienischsprachige Raum fast gänzlich unbeachtet geblieben ist.

Den Abschluss bilden eine Auswahlsbibliographie und ein Sachwortregister. Oftmals gibt es schwerwiegende Probleme bei den Anmerkungen, weil viele Titel nur gekürzt zitiert werden, diese aber nicht in der Bibliographie erscheinen. Es fehlen auch Rückverweise in den Fußnoten, was viel Blättern (oftmals vergebens) verlangt. Insgesamt ist diese Aufsatzsammlung sicher zu begrüßen, aber sie scheint etwas flüchtig und unorganisiert gestaltet zu sein. Viel an neuen Erkenntnissen ergibt sich wohl kaum.

Anmerkungen:
1 Charlemagne. A European Icon: <https://www.charlemagne-icon.ac.uk>; vgl. dazu meinen Beitrag, Charlemagne in Medieval German and Dutch Literature, Suffolk 2021. Sieben Bände resultierten aus der Arbeit dieser Forschungsgruppe: <https://www.charlemagne-icon.ac.uk/research-groups/> (05.04.2023).
2 museum-digital:westfalen, Mit Schwert und Kreuz – Karl der Große – Sachsen und die Eresburg: <https://westfalen.museum-digital.de/exhibition/6>; Karl der Große. Macht – Kunst – Schätze (Dreifachausstellung Aachen 2014): <https://www.karldergrosse2014.de>; Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Karl der Große. 1200 Jahre Mythos und Wirklichkeit: <https://www.hlmd.de/ausstellungen/archiv/detail/detail/past/karl-der-gro-e.html> (05.04.2023).

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